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Per Rad 710 Km auf der Insel der Nuraghen unterwegs



-Reisetagebuch-
31.3.95 - 18.4.95


Freitag, 31.3.95, 1.Tag

Das Auto ist gepackt; die Fahrräder verladen; der Geburtstag von Marianne gefeiert - es kann losgehen. Gegen halb drei trudeln Jan und Sarah bei uns ein; kurze Verabschiedung, dann geht`s über die Nebenstrecke nach Cobbenrode los. Der Kilometerstand des Transits zeigt (1)84.341 Km - in drei Wochen werden es genau 2500 Km mehr sein.

In Elspe kurze Pause - uns fehlen noch 10 Diafilme, die wir im Eifer der Vorbereitungen glatt vergessen haben. Hier wird auch zum ersten Mal vollgetankt. Bald schon ist die Autobahn erreicht - es geht weiter Richtung Frankfurt. Einsetzender Regen, Dämmerung. Vor Frankfurt die ersten Staus - links und rechts Autos von Verrückten, die zu irgendeinem Fußballspiel wollen. Jedem das, was er will. Über dem Frankfurter Flughafen steigen die Ferienjets in den verhangenen Himmel auf. Es wird dunkel; Martin schläft auf der Rückbank ein wenig vor und Marianne gewöhnt sich schnell an das Fahrgefühl im Transit.

In Basel wird so gegen 22.00 Uhr unsere Plakette begutachtet; dann sind wir in der Schweiz. Nun wird es sich zeigen - Schnee oder nicht Schnee auf der Gotthard-Strecke - das ist hier die Frage. Irgendwann vor Mitternacht beginnen die ersten Flocken im Scheinwerferlicht vom Himmel zu schweben - je höher wir kommen, desto mehr - die Straße ist aber noch recht frei. Na ja, im Kofferraum warten ja die Schneeketten - und die neuen Winterreifen geben ein beruhigendes Gefühl.

Nach dem Vierwaldstädter See steigt die Autobahn kontinuierlich an - aber erst ab Andermatt, also kurz vor dem Tunnel - wird die Straße langsam weiß. Und dann sind wir im Tunnel - mit der Hoffnung, wenn wir ihn verlassen, nicht plötzlich mitten im tiefsten Winter zu stehen. Die Kilometerzeichen im 500-Meter-Abstand rauschen vorbei - wirklich ein ödes Fahren im Tunnel, noch dazu mit Gegenverkehr, da eine Röhre gesperrt ist. Und siehe da - bei der Ausfahrt nach Süden kein Schnee mehr. Mit jedem Kilometer, den wir weiter durch die Nacht fahren, kommen wir wieder tiefer. Jetzt dürfte eigentlich keine Gefahr mehr bestehen.

Dafür kommt jetzt gnadenlos die Müdigkeit! Also fahren wir gegen 2:45 auf einen Parkplatz und machen es uns (mehr oder weniger) im Wagen für die restliche Nacht bequem: Jan schläft hinten, hinter den Fahrrädern; Martin auf der Rückbank; Marianne und Sarah nicht ganz so bequem auf den Vordersitzen. Bald senkt sich Stille über uns.


Samstag, 1.4.95, 2.Tag

Um 6:30 ist es uns dann trotz der Schlafsäcke bitter kalt geworden. Draußen wird es hell; wir waschen uns am eiskalten Brunnenwasser der Raststätte (draußen!) und dann geht`s weiter über die Autobahn in Richtung Mailand. Einiges bekommen wir beim ersten Tageslicht noch vom Alpenpanorama mit. Kurz hinter Bellinzona und Lugano verlassen wir die Schweiz am Grenzübergang Chiasso/Como. Martin erinnert an Britta, wie sie hier 1989 in bewährter Papst-Manier den Boden geküßt hat. Wir verzichten darauf; wollen nur weiter Richtung aufgehender Sonne, die sich gerade im Westen über die Berge hochschiebt. Am Autobahnring Mailand verpassen wir irgendwie die richtige Abfahrt; wir kurven durch Vororte und Randbezirke und geraten ein wenig in den normalen mailändischen Straßenverkehr. Irgendwann sind wir dann wieder auf dem Autobahnring, dazu auch noch in der richtigen Richtung.

An der ersten Raststätte machen wir natürlich halt. Es gibt den ersten Cappuccino, dazu ordentlich belegte Paninis. Martin will draußen davon ein Bild machen und drückt dabei versehentlich die Sperre des Auslösers zu fest durch - Ende dieses Apparats; leider auch Ende für das mitgeführte Teleobjektiv. Von jetzt ab müssen wir uns ganz auf den kleinen Apparat Mariannes verlassen.

Weiter auf der schnurgeraden Autobahn; Tempo 120 ist kein Problem, wohl aber der ständige Ärger mit den Mautstellen. Wir hinterlassen den Italienern ein kleines Vermögen. In Höhe Parma verlassen wir diese Autobahn und biegen südlich ab, Richtung La Spezia. Schon bald beginnt die neue Strecke kurvenreich die ersten Ausläufer des Appenin hochzuklettern - unser Paß liegt immerhin wieder bei über 1000 Metern. Eine rauhe Gebirgswelt - der Beginn des Höhenrückens, auf dem wir im Herbst wieder in Umbrien weiterlaufen werden. In La Spezia sehen wir zum ersten mal das Mittelmeer - an der Küste geht es weiter nach Süden entlang; vorbei an den Marmorbrüchen von Carrara. Überall links und rechts der Route gibt es Neues zu entdecken. Die Müdigkeit der Nacht ist verflogen; Marius im Cassettenteil tut ein Übriges.

Und endlich vor uns das Schild: Pisa! Und natürlich sofort überall Hinweise auf "La Torre". Nun gut, es muß halt sein - wenn man schon mal durch Pisa kommt, gehört der Turm eben mit dazu. Aber erst mal nach Pisa reinkommen! Von weitem war der Turm ja als Orientierung noch gut zu sehen - mitten im Stadtgebiet fahren wir erst mal kreuz und quer, fragen nach dem Weg und finden schließlich einen bewachten Parkplatz. Von dort sind es nur ein paar Schritte; durch ein Tor - und da steht er, beeindruckend schief-schön. Sarah wird natürlich sofort von den fliegenden Händlern angesprochen - kann sich aber für das obligatorische Erinnerungsfoto schnell losreißen. Leider kann man nicht mehr auf den Turm - 1989 war das noch möglich. Und in die benachbarte Kirche wollen wir nicht, als wir die Eintrittspreise sehen. Also schnell ein Eis gekauft und wieder zurück zum Wagen - unterwegs noch ein künstlerisch wertvolles Foto des Turmes; gespiegelt in einer Schaufensterscheibe.

Von Pisa bis Livorno ist es jetzt über die Landstraße nur noch ein Katzensprung; leider verfahren wir uns dann im Hafengebiet von Livorno erneut und es dauert eine ganze Weile, bis wir auf einem - wie wir meinen - geeigneten Einschiffungsparkplatz der Moby Line für heute Schluß machen. Marianne und Sarah entschließen sich für ein Schläfchen im Transit; Jan und Martin schwärmen aus, um den Hafen zu erkunden und landen natürlich in der einzig offenen Hafenbar. Ein, zwei Gläschen Rotwein bringen umgehend italienische Stimmung ins Gemüt.

Als die beiden Damen wieder fit sind, geht`s auf in die Innenstadt von Livorno; vorbei an den vielen verwinkelten inneren Hafenkanälen, wo es jede Menge zu sehen gibt. Und dann erst die Innenstadt - lebendig pulsierendes italienisches Leben. Schließlich setzen wir uns an den Rand eines Denkmals (dessen Bedeutung wir leider nicht erraten können) und schauen einfach dem bunten Treiben zu.

Leider finden wir nirgends ein geeignetes Lokal für den inzwischen erwachten Hunger; schließlich einigen wir uns darauf, im Hafenrestaurant zu essen (was sich wegen der dort gelieferten Qualität dann doch als grober Fehler herausstellt). Die abendliche Abfahrtszeit rückt näher - inzwischen haben sich eine ganze Reihe, meist deutscher Touristen, zu uns gesellt. Also scheint der Parkplatz doch der Richtige zu sein. Dann kommt die Fähre langsam herein - und jetzt beginnt der Run auf die Einfahrtsrampe! Von Ordnern, wie aus Nordeuropa gewohnt, keine Spur - jeder versucht, irgendwie an die Schiffseinfahrtsrampe heranzukommen - und das gleichzeitig von mehreren Seiten. Endlich sind wir dran und kurz darauf ist unser Transit im Bauch der Fähre verschwunden. Geschafft!

Also rauf zur Information und nach unserer Kabine geschaut. Sie ist zwar nicht besonders gemütlich; aber nach der langen Fahrt stört uns das nicht mehr. Martin trifft nochmals an der Bar kurzfristig fast der Schlag, als er eine Runde ausgibt und Marianne für drei Dosen 0,33 Heinecken insgesamt 12.000 Lire; immerhin ca. 12 DM (aus Martins Geldbeutel) auf den Tisch blättern muß. Danach übt er Konsumverzicht! Nach einem kleinen abendlichen Rundgang übers Schiff - eher schon nächtlich, machen wir es uns in den doch recht bequemen Betten gemütlich. Jan sorgt noch dafür, daß unser Fluchtweg ausreichend bekannt und markiert ist. Dann wiegt uns das sanfte Schaukeln des Schiffs - Gott sei Dank sanft! - bald in den Schlaf.


Sonntag, 2.4.95, 3.Tag

Wir sind alle ziemlich früh wach. Schnell noch eine heiße Dusche (wir ahnen, daß es für lange Zeit die letzte sein wird) und dann an Deck. Langsam schält sich aus dem Dunst die Küste Sardiniens heraus. Irgendwo dahinten muß Olbia liegen. Hinter uns wird es am Horizont immer heller - der Sonnenaufgang steht bevor. Wir stehen in der doch recht kalten Luft auf dem Oberdeck, zwar geschützt durch einen Glasvorbau; der gleichzeitig aber auch die Sicht erschwert.

Die Küste kommt immer näher, wir können die Einfahrt nach Olbia bereits erkennen. Hinter uns geht die Sonne auf - wie immer ein beeindruckendes Schauspiel, das man am besten still genießt. Wir sind schon längst nicht mehr die Einzigen, die das Einlaufen des Schiffes mitverfolgen. Links kommen wir an einem Sandstrand vorbei, an dem 1989 unsere letzte Mittagsrast stattfand; rechts die Macchia, in der wir damals die letzte Nacht verbracht haben.

Und dann sind wir da - es dauert noch eine Weile, bis wir aus dem Schiff heraus sind, aber dann geht es auf altbekannten Wegen hinein nach Olbia - wegen der vielen Einbahnstraßen gibt es noch eine zwangsläufige Stadtrundfahrt; dann parken wir an der 91`er Bar, die aber leider noch geschlossen hat. Wir streifen zu Fuß durch das Zentrum und finden schließlich eine geöffnete Bar, in der wir unser erstes sardisches Frühstück einnehmen: Capuccino und süße Teilchen. Sarah wählt stattdessen lieber einen Kakao, der sich als ziemlich teuer entpuppt und mehr Ähnlichkeit mit einem Pudding aufweist. Mit einem Eis geht es dann zum Platz mit dem Brunnen - immer eine Station für uns bei den letzten Fahrten. Hier ist heute früh, am Sonntag, noch nicht viel los - wir räkeln uns in der ungewohnt warmen Sonne und genießen die Ankunft.

Gegen 9.00 Uhr verlassen wir Olbia auf den endlosen Ausfallstraßen - bewundern die ungewohnte Mittelmeerflora mit ihren Palmen und sonstigen großen Gewächsen. Und dann geht es auch schon am Flughafen vorbei auf der Strasse nach Sassari. Natürlich ist die Stimmung bestens. Deswegen verpassen wir wahrscheinlich auch die Einfahrt zum Bauern - kurz vor Monti-Telti müssen wir drehen und zurückfahren.

Die Spannung steigt, als wir auf den Feldweg einbiegen - wird der Bauer da sein, uns erkennen?

Er ist da, und er erkennt uns! Sofort ist die herzliche Atmosphäre spürbar. Und natürlich gibt es auch schnell etwas zu trinken.... Wir erklären unsere Tour und bitten darum, den Transit stehen lassen zu dürfen - keinerlei Probleme.

Jetzt heißt es erst einmal umpacken - schließlich sind die Satteltaschen alle noch ganz leer. Es wird gepackt, kontrolliert, festgeschnallt, überprüft - schließlich ist alles bereit. Was erst für die Rückfahrt benötigt wird, bleibt im Transit (u.a. auch die Schokoladen-Ostereier, denn wir wollen ja zum Karsamstag wieder beim Bauern zurück sein und stilvoll das Osterfest begehen...)

Ein letztes Gespräch, ein letztes Glas - inzwischen ist auch die Frau des Bauern eingetroffen - und dann fährt er vor uns her, um uns die Nebenstrecke nach Monti zu zeigen, von wo aus wir hoch ins erste Gebirge wollen. Für uns und die Räder die erste "Strada bianca". Egal, es läuft trotz des ungewohnten Gepäcks - immerhin doch so einige Kilo - recht gut.

Durch Monti hindurch - und dann die erste Steigung. Und was für eine! Sie scheint sich endlose Kilometer hinaufzuziehen. Hier wird deutlich, daß Jan wegen seiner Fünf-Gang-Schaltung schneller treten muß als wir - und dementsprechend erscheint er immer wieder hoch über uns in den Serpentinenkurven. Dafür macht er aber schöne Videoschwenks, wie wir den Berg heraufkeuchen. Unterwegs entblättern wir uns allmählich und genießen die warme sardische Sonne - die mit fortschreitender Tageszeit allmählich lästig warm wird.

Am Brunnen vor Mareikes Haus

Oben machen wir an einem Brunnen gegenüber einem einsam gelegenen Haus, bei unserer ersten "Cantoniera" kurz Station - schon bald kommen wir in Kontakt mit einer Frau, die sich zu unserer Überraschung als waschechte Niederländerin herausstellt, die natürlich gut deutsch spricht. Kurz darauf sitzen wir in ihrem gemütlich kühlen Wohnzimmer und genießen wieder sardischen Wein - diesmal eine Spezialität: Erdbeerwein, der ein besonderes Aroma hat. Mareike öffnet sogar eine Flasche Sekt (und schießt dabei fast einen der unter der Decke hängenden Schinken ab). Von ihr erfahren wir viel über das Leben hier in dieser Region - sie ist mit ihrem Mann bei der Forstaufsicht beschäftigt.

Danach werden die Wasservorräte ergänzt, wir bekommen noch einen guten Tip für einen Lagerplatz am Abend, und weiter geht es. Hinter einer Kurve sehen wir zum ersten mal den Supramonte (denken wir zu diesem Zeitpunkt noch) Eine fantastische Aussicht! Zeit für die ersten Panoramafotos. Dann nähern wir uns der Stelle, die laut Mareike gut zum Übernachten geeignet sein soll. Dank der genauen Ortsbeschreibung ist das auch kein Problem. Die Räder verschwinden hinter einem Steinwall und nach einigen Schritten sind wir von der Straße aus nicht mehr sichtbar.

Mitten zwischen alten Korkeichen schlagen wir unser Lager auf, d.h., wir verzichten auf das Zelt und beschließen, unsere erste Nacht unter dem sardischen Sternenhimmel zu genießen.

Die Sonne ist inzwischen untergegangen - und mit ihr die restliche Tageswärme. Es wird empfindlich kühl. Nach der ungewohnten Mittagshitze fällt uns die Kälte besonders auf - aber kein Problem - wir hüllen uns in unsere warmen Fleecesachen. Das Außenzelt wird als Unterlage ausgebreitet und schon bald ist das Nachtlager fertig - zum ersten Mal für die vor uns liegenden Abende. Wo werden wir wohl die nächsten Nächte verbringen?

Am Himmel leuchten nach und nach die ersten Sterne auf - in der klaren Abendluft ein viel deutlicherer Eindruck als bei uns zu Hause. Es gibt noch etwas Heißes zum Abendessen und dann machen wir es uns im Schlafsack gemütlich, betrachten den Sternenhimmel über uns und genießen die wärmenden geistigen Mitbringsel aus Deutschland. Mit dem großen Außenzelt können wir uns auch noch den unteren Teil der Schlafsäcke zudecken. Martin hat gewisse Probleme mit dem neuen, noch etwas ungewohnten Baribal-Schlafsack. Zu den von ihm vielgepriesenen Vorzügen der "Kompaktklasse" zählt leider auch, daß der Schnitt oben herum etwas eng ausgefallen ist, zumindest für seine Figur. Also muß Marianne Hilfestellung leisten und den Reißverschluß von außen hochziehen. Mit Betrachtungen des Weltalls im Allgemeinen und dem eventuellen Leben auf fremden Sternen im Besonderen vergeht die Zeit bis zum Einschlafen im Nu.


Montag, 3.4.95, 4.Tag

Schon früh sind alle wach - kein Wunder bei den doch sehr frostigen Außentemperaturen - aber was heißt schon außen: wir liegen ja mitten drin im "Draußen". Ein Thermometer ist nicht nötig, um die Nachttemperaturen exakt festzuhalten: die dicke Eisschicht auf den Schlafsackfußteilen erübrigt weitere Diskussionen über den "sonnigen Süden". Und Martins neuer Schlafsack der "Kompaktklasse" hat einen weiteren wichtigen Punkt bewiesen: zwei Lagen Polarguard sind nun mal eben nicht so warm wie eine dreilagige Füllung.....

Eis auf den Schlafsäcken - heute Abend bauen wir unser Zelt auf!

Die ersten Schritte außerhalb des Schlafsacks sind noch etwas steif, sei es von der ersten Fahrerei des Vortages oder von den Minusgraden - egal, der Sonnenaufgang kündigt sich bereits an; dann muß es ja wärmer werden! Zuerst mal wird der Brenner angeworfen und heißes Wasser für den ersten Cappuccino erzeugt - gleichzeitig ein willkommener Hitzespender für die klammen Finger. Dann stehen wir mit den dampfenden Bechern in der Gegend herum und beobachten die heraufziehende Sonne. Und tatsächlich, von Minute zu Minute wird es spürbar wärmer!

Die Isomatten und Schlafsäcke werden in der Sonne gewendet und beginnen zu dampfen; das Gepäck verschwindet nach und nach in den Gepäcktaschen. Diese Prozedur wird sich von nun an jeden Tag wiederholen. Heute dauert es nur deshalb ein wenig länger, weil die Übernachtungssachen doch eine Menge nächtliche Feuchtigkeit abbekommen haben.

So gegen neun sind wir aber schon wieder auf der Straße; das Frühstück mit frischen Brötchen im nahen Ala dei Sardi lockt! Vorher aber gibt es eine rasante Abfahrt hinunter in ein noch teilweise von Nebelfetzen bedecktes Tal. Und hier wird uns schlagartig bewußt, daß Höhenmeterangaben bei den Paßstrichen auf unserer Karte (die Sebastian vor vier Jahren für Tunnels hielt) nur die Hälfte der Wahrheit wiedergeben - genau so wichtig sind die kleinen blauen Striche, die Bäche oder Flüsse oder Namen angeben: dies deutet unweigerlich auf tiefe Taleinschnitte hin!! Und siehe da - nach der Abfahrt kommt nun tatsächlich eine lange, kurvenreiche Steigungsstrecke hinauf in den Ort - und was für eine! Zum Glück schieben wir zwischendurch ein wenig, sonst wären wir, exakter gesagt, Jan, an wichtigen Bildfunden achtlos vorbeigeradelt. Marianne und Sarah haben alle Mühe, die beiden Herren von diesem Fundobjekt wegzulotsen.

Inzwischen ist die Sonne doch schon recht erbarmungslos. Es hat sich auch herausgestellt, daß zumindest Sarah und Martin einen schönen Sonnenbrand am Vortag erwischt haben. Das bedeutet, daß nun beide mit den Armen aus der Sonne bleiben müssen und die schönen langärmligen Fleecehemden tragen dürfen. Ein außergewöhnliches Gefühl; zum Glück ein wenig gemildert durch den kühlen Schweiß, der einem dabei den Rücken und die Arme herunterläuft.

In Ala dei Sardi ist zum Glück nichts von der Situation zu spüren, vor der uns Mareikes Mann gewarnt hat. In einem kleinen Geschäft werden wir von netten, jungen Damen bedient und ziehen mit unseren Brötchen und Getränken zu einem winzigen Park direkt vor der Gemeindeverwaltung. Hier ist ein ausgiebiges Frühstück angesetzt.

So gestärkt geht es am späten Vormittag weiter - die Straße ist gut, die Steigungen lassen sich ertragen und zu sehen gibt es jede Menge, z.B. ein Marmorwerk, wo wir den Arbeitern eine Zeitlang zuschauen, wie sie mit riesigen Preßluftgeräten große Blöcke aus dem Berg herausstemmen.

Vor dem nächsten Ort, Budduso, immerhin auf einer Höhe von 690m, wieder eine längere Steigung. Grund genug für einen kleinen Mittagsschoppen; im Rinnstein an der Hauptstraße im Schatten sitzend und das sardische Leben an uns vorüberfließen lassend. Bierra Moretti ist angesagt. Sarah übt sich dabei mit überwältigender Akustik in sauerländischen Brunfttönen .....

Danach müßte laut Karte unsere "erste" Nuraghe kommen - und so ist es dann auch. Wir lassen die Räder ein Stück zurück und klettern auf den Steinen der Nuraghe Loelle herum.

Die erste Nuraghe ist die Schönste!

Es ist halt nun mal unsere "erste" Nurgahe - also müssen wir sie ausgiebig bestaunen! Schon beeindruckend, was hier vor mehr als 3500 Jahren gebaut wurde - der Zweck und vor allem die Erbauer sind im Dunkel der Geschichte verschwunden - die Bauwerke (man schätzt bis zu 6000 auf der ganzen Insel verstreut) werden wohl noch mal so lange stehen.

Es ist inzwischen angenehm warm - und laut Straßenkarte sind für das nächste Stück bis Bitti, der nächsten Stadt, so an die 25 Kilometer, keine Steigungen zu erwarten. Vor Bitti soll es sogar steil hinuntergehen!

Also geht es wieder frisch in den Sattel und die Räder rollen auch prächtig. Bis wir auf eine kartenspezifische Bedeutsamkeit stoßen, die wir bis jetzt nicht beachtet haben: ein unscheinbares blaues Bändchen quert unsere Route - das ist zweifelsfrei der Rio Tirso. Und dieser Fluß hat sich im Laufe der vielen Jahre seiner Existenz ganz gewaltig tief ins Gelände eingeschnitten. Wir spüren das, als unsere Räder auf der landschaftlich wirklich schönen Strecke immer schneller werden und wir hinab ins Flußtal rollen. Noch freuen wir uns an dem tollen, neuen Tages-Max, bis wir noch weiter unten vor uns in einer Kurve die kleine Steinbrücke ausmachen können, auf der unsere Straße den Fluß überquert - und danach kann man schon wieder die lange Steigung erahnen, die uns auf die Hochebene mit etwa 700 m hinaufführen wird.

Aber auch das kann unsere Laune nicht verderben. Zumal der Tirso auch noch sauberes Wasser führt! Eine einmalige Gelegenheit, die wir zu einer ausgedehnten Mittagspause und einer Waschorgie nutzen (natürlich sittsam nach Männlein und Weiblein getrennt!)

Danach liegen wir im Gras im Schatten einiger Bäume und warten darauf, daß unsere Konservenwürstchen (beste Qualität von Metten) heiß werden. Außerdem reduziert das vor dem Anstieg das Gepäck! Als die Weinflasche auch geleert ist, brechen wir so gegen 15:00 Uhr wieder auf - noch wollen wir ein tüchtiges Stück heute schaffen.

Na, und die Abfahrt nach Bitti hinunter ist wirklich schnell! Leider ist uns bei jedem locker gerolltem Meter klar, daß wir ihn irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft wieder mühsam steigen müssen.

Bitti am Spätnachmittag - fast ausgestorben. Wir sitzen auf dem Platz im "Zentrum" und können uns in einem zufällig geöffneten Alimentari mit neuen Getränken versorgen. Dann schauen wir den vielen alten Männern zu, die im benachbarten Park ihre Zeit mit einer Art Kugelspiel vertreiben, Wein trinken oder einfach nur so dasitzen und die Sonne genießen. Auch wir werden von ihnen ausgiebig gemustert. Radtouristen kommen hier sicher nicht allzu oft durch.

Unser nächstes, größeres Ziel ist Oliena - das werden wir zwar heute nicht mehr erreichen; morgen wollen wir es aber bis dahin geschafft haben. Jetzt zeigt ein Blick auf die Karte, daß es zwei Möglichkeiten gibt: einmal direkt über die Provinzhauptstadt Nuoro; etwa 50 Kilometer. Oder aber über einige kleinere Dörfchen über Nebenstraßen; so um die 47 Kilometer. Es sind aber nicht die drei Unterschiedskilometer, die unsere Entscheidung zugunsten der Nebenstrecke beeinflussen, sondern vielmehr die vielen Pfeile, die sich auf der Hauptstrecke befinden. Aus "Erfahrung" wird man eben klug; noch besser aber ist es, wenn man sich vor dem Fahren die Strecke anhand der Karte höhenmäßig vorstellt. Wir jedenfalls haben die Lektion vom Mittag schnell begriffen.

Uns siehe da - leicht rollen die Räder zum nächsten Dorf mit dem klangvollen Namen Onani (was bei uns für viel Erheiterung sorgt). Zwar müssen wir die letzten paar hundert Meter vor dem Dorf, das dummerweise auf einem Bergrücken liegt, ganz schön in die Pedalen treten bzw. alternativ mal einige Meter schieben, dafür geht es nun aber nur leicht ansteigend weiter nach Lula.

Der Abend kündigt sich inzwischen an - Lula wird sicher der letzte Ort sein, den wir heute durchfahren. Also wollen wir schnell die Vorräte ergänzen. Während Marianne und Sarah sich auf einen Ministadtbummel machen, kaufen Jan und Martin im Supermarkt ein und lassen sich dann als Gepäckwache im Rinnstein vor dem Geschäft nieder. Hier prägen sie den Begriff der "Melanies von Sardinien". Leider vergessen sie darüber, genau wie unsere beiden flanierenden Damen, sich intensiv Gedanken über die benötigte Verpflegung des nächsten Tages zu machen. Wozu auch heute Abend noch Brot kaufen, wo man es doch morgen früh ganz frisch hier bekommen kann. Und wir wollen ja sowieso in zwei, drei Kilometern für heute Schluß machen.

Gegen sechs Uhr fahren wir langsam die "Ausfallstraße" aus Lula hinaus; merkwürdigerweise hinauf ohne eine große Aussicht nach vorn zu haben. Dann kommen wir über die Kuppe: vor uns liegt ein beeindruckend tiefes Tal; die Straße windet sich in Serpentinen hinunter. Zeit für eine letzte, rasante Tagesabfahrt, zu der wir sogar die Helme aufsetzen.

Nach zwei Kilometern Abfahrt zweigt ein kleines Sträßchen zum Santuario San Francesco ab - das wird für uns gerade das richtige für die Nacht sein. Wir stehen kurz darauf vor einem kleinen Kloster, das aber völlig verlassen zu sein scheint. Aber was soll`s: neben der Straße ist ein schönes, ebenes Plätzchen für unser Basefox, das wir heute zum ersten Mal aufbauen.

Zum ersten Mal während der Tour bauen wir unser Basefox von Fjällräven auf

Bis auf das leidige Einknöpfen des Innenzeltes geht das auch ganz fix - schon bald entwickelt sich im Topf aus Wasser und Pulver ein Fertiggericht mit dem klangvollen Namen "Spaghetteria Carbonara". Wir haben inzwischen die Klosterumgebung ein wenig erkundet - sogar Trinkwasser kann man hier bekommen - allerdings auch nur das! Uns dämmert langsam, daß es ein weiter Weg morgen früh die Serpentinen hinauf nach Lula sein wird, um die vergessenen Paninis zu kaufen. Selbst Jan läßt sich nicht überreden, als "begeisterter Frühaufsteher" diese Angelegenheit für die anderen zu übernehmen.

Aber das soll heute nicht mehr unsere Sorge sein: der Tacho zeigt einen Max von 48,9; 58 Kilometer mit einem erschreckend langsamen Schnitt von 9,9 liegen heute, am ersten vollen Fahrtag, hinter uns - und nach knapp 6 Stunden im Fahrradsattel melden sich beim Ausstrecken auf den 2,5cm dicken Therm-A-Rest Matten alle Knochen dementsprechend.


Dienstag, 4.4.95, 5.Tag

Wieder sind wir früh auf, wieder ist es draußen recht frisch - als wir aber vor dem Zelt stehen, begeistert uns die überwältigende Aussicht über die vor uns liegende Fahrtstrecke mit den vielen Tälern und Höhenzügen. Wobei man von den Tälern eigentlich nicht viel erkennen kann, da sich über Nacht ein dichter Nebel gebildet hat, der nun zu unseren Füßen in den Tälern liegt. Aber überall ragen einzelne Kuppen, schroffe Berge oder ganze Gebirgszüge aus diesem Nebel hervor und geben uns einen guten Überblick über die uns in den nächsten Tagen bevorstehende Strecke. Das mächtige Gebirge vor uns muß bereits ein Ausläufer des Gennargentu sein, des höchsten Gebirges auf Sardinien.

Idyllische Morgenstimmung am Santuario San Francesco

Keine Brötchen - also auch kein Frühstück! Na ja, irgendwo wird gleich schon mal was kommen. Und Wasser können wir ja schon mal für unterwegs abfüllen.

Um 8:20 sitzen wir bereits im Sattel und rauschen weiter die Hauptstraße hinab; vorbei an einer plötzlich auftauchenden Carabinieri-Kontrolle mit Maschinenpistolen. Die sind wohl genauso überrascht wie wir, als wir in zügigem Tempo an ihnen vorbeizischen. Dann wieder ein kaum angedeutetes Flußtal auf einer ansonsten ohne Pfeile gezeichneten Strecke - klar, das heißt einmal hinunter zur Brücke und am Gegenhang wieder hinauf. Kennen wir ja inzwischen! Zum Glück hält sich der Anstieg in tolerierbaren Grenzen; und schon bald geht es weiter abwärts, hinunter zur autobahnähnlichen Strada Nr. 131. Unterwegs tauchen wir immer tiefer in den Nebel ein - es wird richtig dämmrig, vor allem aber sehr kalt und äußerst naß! Unten angekommen machen wir von unseren nebelgenässten Armen erst einmal ein Erinnerungsfoto.

Die SS 131 wollen wir lieber nicht nehmen - vielleicht ist das auch gar nicht für Radfahrer erlaubt - laut Karte soll sich aber eine Nebenstrecke an der 131 entlang befinden. Es dauert ein Weilchen, bis wir an der etwas verwirrend gestaltenen Auffahrt zur SS 131 den richtigen Abzweig entdeckt haben. Dafür werden wir aber mit einem genußvollen Fahren ohne störenden Autoverkehr belohnt. Der braust derweil mal links, mal rechts neben unserem Sträßchen auf der Autobahn dahin.

Und dann erwartet uns ein Schauspiel besonderer Art. Andrees italienische VEW-Kollegen haben es sich vorgenommen, eine Hochspannungsleitung quer über die SS 131 hinüber zu einem Verteilerhäuschen zu spannen. Aus sicherer Entfernung beobachten wir ihr Vorgehen: zuerst einmal zieht einer der Arbeiter das Kabel die Böschung zur Autobahn hoch und zieht es dann über die Leitplanke. Ein anderer stellt sich an die Straße und bemüht sich mit einem roten Fähnchen, den Verkehr zum Stoppen zu bringen. Als endlich auf beiden Richtungen die Wagen stehen, hastet der Seilträger los und zieht das Kabel rüber bis zum Trafo-Häuschen. Die Autofahrer warten erst gar nicht die Freigabe ab, sondern fahren munter über das quer über der Fahrbahn liegende Kabel hinweg.

Drüben hat inzwischen jemand das Kabelende an einem der Isolatoren oben am Trafo-Häuschen befestigt. Auf unserer Seite wartet schon eine Art Kranwagen, über dessen hochgereckten Arm gleich das Kabel gespannt werden soll (Die sardischen VEWler haben wohl eingesehen, daß sie den Verkehr nicht zum dauerhaften Halten bringen werden. Also warten sie eine Lücke im Verkehr ab und ziehen mit einer Seilwinde an - und zack - da ist das Kabel auch schon wieder vom Kranarm abgerutscht!

Von nun ab nimmt das Schicksal seinen Lauf! Nachdem das Kabel endlich wieder oben auf dem Arm liegt; wieder mal kein Auto weit und breit zu sehen ist, zieht die Seilwinde erneut an - und siehe da - das Kabel spannt sich wie geplant immer höher über der Autostrada. Schon flitzen unten die ersten Wagen mit Tempo 100 durch - da reißt mit einem Mal der Isolator am Trafo-Häuschen ab - das Kabel peitscht quer über die Autobahn!

Wir sind froh, daß wir genug Abstand hatten - die Arbeiter scheinbar auch - den Autofahrern scheint das alles nichts auszumachen: sie fahren weiter über das Kabel. Nun, wir können das erfolgreiche Ende dieser Baumaßnahme nicht mehr abwarten: inzwischen ist die Sonne durch den Nebel gebrochen - das erinnert uns daran, daß jeder mal gerade eine Trinkflasche für die vor uns liegenden heißen Tagesstunden hat - und natürlich meldet sich jetzt, so gegen 11 Uhr, ganz gewaltig der Appetit auf ein Frühstück.

Nach kurzer Weiterfahrt erreichen wir die Abzweigung, die uns nach 17 Kilometern zum "Frühstücksort" Oliena bringen soll. Normalerweise kein größeres Problem, sollte man meinen. Bedenklich stimmt uns aber das mächtige Gebirge, über das wir nun anscheinend hinweg müssen. Zunächst trösten wir uns mit dem Gedanken an eine gut verborgene Paßstraße, die uns irgendwie durch tiefeingeschnittene Täler hindurchlotsen wird. Vorher stärken wir uns noch einmal, inzwischen unter der gnadenlosen Sonne neben unseren Rädern auf dem Asphalt sitzend, an unseren einzigen Vorräten: einer letzten Tafel Nuß-Schokolade aus dem Aldi, aufgeteilt für vier Personen.

Und dann beginnt der Aufstieg. Schon bald wird uns klar, daß es mit einem tiefeingeschnittenen Paß nichts wird: der weitere Verlauf unserer Straße, hoch oben am Berg entlang, wird sichtbar! Nach und nach entledigen wir uns der überflüssigen Kleidungsstücke und riskieren lieber einen Sonnenbrand, als bergauf unmäßig zu schwitzen. In vielen Serpentinen erklimmen wir schließlich den Paß und können von dort erstmals auf den Supramonte vor uns blicken. Am Fuß dieses fast blendend weiß erscheinenden Bergmassivs liegt das kleine Städtchen Oliena. Martin kennt es von der `89er Tour her. Hier hatte die Gruppe seinerzeit drei Tage Station gemacht, um eine geführte Bergwanderung durch den Supramonte zu unternehmen.

Die Abfahrt gestaltet sich problemlos; allerdings steht es mit den Straßenverhältnissen nicht zum Besten. An der nächsten Abbiegung müssen wir uns erst einmal über die Richtung einigen - natürlich fehlen alle Hinweisschilder; laut Karte sollten wir uns besser links halten. Das tun wir intuitiv auch und erreichen kurz darauf eine neu angelegte Straßenkreuzung mit etwas überdimensionierten Rondells. Auch hier fehlen natürlich die Hinweisschilder; jetzt ist die weitere Fahrtrichtung allerdings klar. Inzwischen macht uns der leere Magen und die immer stärker werdende Hitze arg zu schaffen; kein Wunder, haben wir die Mittagszeit doch schon weit überschritten!

Die letzten Kilometer, dazu noch ansteigend bis Oliena, ziehen sich daher endlos dahin. Uns treibt nur noch der Gedanke an frische Brötchen und ein kaltes Bier vorwärts. Umso größer die Enttäuschung, als wir gegen 14:30 Uhr in Oliena eintreffen: jedes Lebensmittelgeschäft hat natürlich inzwischen über Mittag geschlossen - und das bedeutet bis mindestens 17 Uhr. So lange können wir natürlich nicht hier bleiben - aber so lange wollen wir es auch nicht mehr ohne Essen aushalten! Selbst in der einzigen geöffneten Bar gibt es außer Süßigkeiten nichts zu Essen - keine belegten Brote, keine Teilchen - nichts! Wir beschließen spontan, ein Restaurant aufzusuchen als Ausgleich für die heutigen Strapazen. Weiter oben im Dorf werden wir fündig. Mehrere Leute beschreiben uns den Weg zum scheinbar geöffneten Restaurant "CK".

Und hier, in dieser Albergo, kommen wir endlich zu unserer ersten Mahlzeit des Tages! Der Wirt fordert uns freundlich auf zum Eintreten; unsere Räder dürfen wir auf seiner Veranda zwischen allerlei Grünzeug parken. Und dann kommt die Speisekarte! Wir sind inzwischen soweit, daß wir sie einmal von oben bis unten durchbestellen könnten!

Pane Vrattau im CK in Oliena

Wir entscheiden uns schließlich für eine typisch sardische Vorspeise: "Pane Frattau". Die kennen wir bislang nur aus dem Reiseführer. Hier wird sie nun vor unseren Augen vorbereitet: Grundlage sind mehrere Schichten des sardischen Fladenbrotes, in Brühe eingeweicht. Darauf befindet sich eine Art Tomatensauce, gekrönt von einem wabbeligen Spiegelei. Die nette Bedienung zeigt uns, wie man`s richtig ißt: alles wird pfannkuchenmäßig zusammengerollt und dann scheibchenweise genossen. Wirklich gut! Der dazu gereichte Hauswein, ein wenig wegen der Mittagshitze mit Wasser verdünnt, rinnt dabei wie Öl durch die durstigen Kehlen. Nun schon etwas gesättigt können wir uns der eigentlichen Hauptspeise widmen: Pizza in unterschiedlichen Ausführungen. 80.000 Lire kostet alles zusammen inklusive der Getränke - das läßt sich verschmerzen! Wir sitzen noch lange im kühlen Restaurant und genießen den vollen Magen; teilweise ein wenig durch den aufdringlichen Hund des Besitzers gestört. Marianne und Sarah nutzen die kleine Toilette nacheinander zu einer Art Vollbad.

Wieder eine neue Lernerfahrung: man achte rechtzeitig auf Verpflegungsnachschub!! Heute Abend werden wir uns ausreichend mit Frühstücksutensilien eindecken!

Draußen ist die Hitze inzwischen auf ihrem Höchststand angekommen. An der Ortsausfahrt von Oliena decken wir uns bei einem Privathaus reichlich mit Trinkwasser ein. Jan und Sarah übernehmen das in perfektem italienisch, während Martin im Rinnstein sitzt und fluchend versucht, einen neuen Film in Mariannes Camera einzufädeln.

Wieder gibt es zwei Möglichkeiten, Orgosolo, das nächste Städtchen, zu erreichen. Wir wenden uns mit Grausen von der "Schnellverbindung" zwischen Oliena und Orgosolo ab: gewunden wie ein Darm, dazu mehrfach Pfeile und noch gelb-weiß eingezeichnet: die letzte Stufe vor einer "Strada bianca"; zu deutsch: unbefestigter Feldweg.

Orgosolo - davon hat zumindest jeder Sardinien-Tourist schon mal gehört. Gleichzeitig das große Sardinien-Klischee-Bild: Banditen, Entführungen, Blutrache. Folge des reißerischen Journalismus, nach dem man sich in diese Region Sardinien "nur per Jeep und geschlossener Türen" wagen könne, sind die vielen Touristenbusse, die scharenweise aufbrechen, um die "Banditen von Orgosolo" abzufotografieren. Ein Tourismus, wie er deprimierender nicht sein kann, der pausenlos in ein Kleindorf einbricht und in jedem Dorfbewohner den Banditen sieht. Ein Tourismus, der auszieht, das Gruseln zu lernen. Gedankenlos wie alles "Denken in Schlagzeilen".

Wir werden es in wenigen Stunden selbst kennen lernen. An der Abzweigung nach Orgosolo legen wir aber erst einmal eine Pause unter einem schattenspendenden Baum ein und genießen das noch kühle Trinkwasser aus unseren Flaschen. Plötzlich hält ein Wagen an, setzt zurück. Der Fahrer will wissen, wohin wir unterwegs sind. Als er hört, daß Orgosolo unser Ziel ist, mahnt er uns eindringlich zur Vorsicht - "banditi" ist aus seinem Gestikulieren leicht zu erraten. Wir nehmen es gelassen als folkloristische Einlage - was könnten uns Radtouristen "banditi" schon anhaben wollen? Als aber kurz darauf ein zweiter Fahrer uns von der Fahrt nach Orgosolo abhalten will, kommt uns das schon ein wenig komisch vor.

Aber was heißt hier schon "Fahrt"! Die schnurgerade, ebene Straße entlang des Flusses beschreibt an einem markanten Felsblock mit einer großen Gesteinsmalerei ein scharfe Linkskurve und windet sich mit erheblicher Steigung in vielen Serpentinen die nächsten drei Kilometer aufwärts. Orgosolo selbst, hoch über uns auf dem Berghang, ist noch gar nicht zu sehen.

Wie oft werden wohl schon Fahrradtouristen hier gesessen haben?

Nach einem Erinnerungsfoto auf dem Stein heißt es nun schieben, schieben, schieben, bis wir endlich das Dorfeingangsschild mit dem Orientierungsplan erreichen. Leider müssen wir noch ein gehöriges Stück durch die Außenbezirke hindurch, alles immer bergauf, ehe wir den Ortskern erreichen. Pflichtgemäß bewundern wir die "Murales", die Wandmalereien, die besonders hier in Orgosolo zu finden sind. Interessanter allerdings ist der Supermarket, in dem wir dringend unsere Verpflegung auffrischen müssen.

Es ist inzwischen 18:15 Uhr - die Dämmerung wird bald einsetzen und ein Lagerplatz ist weit und breit nicht zu sehen. Eile ist daher jetzt erstes Gebot. Die Auswahl im Supermarket ist nicht berauschend - am ehesten wird es noch der Wein sein, den wir kaufen: zwei 2-Liter-Flaschen Marsala-Wein mit satten 16 Prozent. Dafür gibt es kein Brot mehr - nur noch zwei armselige Packungen Toastbrot liegen im Regal und wechseln schnell den Besitzer, damit wir überhaupt etwas zu essen haben. Draußen wird der Wein umgefüllt und die schweren Glasflaschen gleich zurückgelassen - was nicht in die Trinkflaschen paßt, wird an Ort und Stelle genußvoll vertilgt; unter den Augen der neugierigen Dorfbewohner, die jetzt zur Abendzeit langsam aus ihren Häusern kommen, um selbst einzukaufen. Wie überall zu dieser Abendstunde ein Auf und Ab von Jugendlichen; meist mit kleinen, dafür lautstarken Mofas. Von "banditis" oder Feindseligkeit natürlich weit und breit keine Spur!

Ganz im Gegenteil! Als wir den Ort bergauf verlassen, werden wir durch laute Zurufe aus einem Neubau eingeladen, doch zu einer Rast hochzukommen und einen Schluck zu trinken. Na, wer sagt`s denn! Leider müssen wir diese nett gemeinte Einladung ausschlagen, da es nun wirklich Zeit wird, ein geeignetes Plätzchen für die Nacht zu finden.

Und das wird heute Abend wirklich ein Problem! Die Straße zieht sich stetig den Berg in Serpentinen hinauf; das Gelände links und rechts ist dementsprechend steil. Dazu ist noch alles abgezäunt. Die nun schnell einbrechende Dunkelheit zwingt zu ungewöhnlichen Maßnahmen: als wir unter uns eine halbwegs ebene Grasfläche erspähen, warten wir ab, bis kein Autoverkehr da ist und hieven dann erst die Gepäcktaschen, danach die Fahrräder über den Stacheldrahtzaun und schlagen uns "in die Büsche". Leider sind diese Büsche nicht so ganz blicksicher von der Straße aus. Wir verhalten uns also möglichst unauffällig und stellen die verräterisch reflektierenden Satteltaschen eng zusammen. Eins der vorbeifahrenden Autos hält auch mal an, fährt dann zu unserer Erleichterung aber wieder weiter.

Weiter unter uns befinden sich Schweine auf der Wiese; wir scheinen sie aber nicht weiter zu stören. Umgekehrt nehmen wir ihr Grunzen die Nacht über auch klaglos hin. Ärgerlicher ist da schon der etwas weiter weg angekettete Hund, der uns durch sein ständiges Bellen nervös macht.

Tortellini Napoli steht heute auf dem Speiseplan - wir haben keine Mühe, eine zweite warme Mahlzeit an diesem Tag zu verdrücken.



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